Organisation im Vorfeld: Esther-Maria Guggenmos, Gerrit Lange, Brigitte Luchesi.
Am 11.6.2021 trafen sich 10 Mitglieder des Arbeitskreises und daran Interessierte, um das Verhältnis zwischen Emotion und Ritual aus religionsästhetischer Sicht auszuloten und ein weiteres, ausgedehnteres Treffen zu diesem Thema vorzubereiten. Dabei haben sich drei neu am Arbeitskreis Interessierte vorgestellt:
- Elena Schaa forscht wissenschaftshistorisch, in Dublin zu Heisenberg und zu den Bildern und Narrativen, derer er sich bedient hat.
- Lina Aschenbrenner aus München wurde bei Anne Koch zum Gaga-Tanz promoviert und hat dabei eine „ganzheitliche“, also weder rein geistes- oder naturwissenschaftliche Betrachtungsweise gewählt.
- Christine Keruth, Museologin und Religionswissenschaftlerin, steht kurz vor Abschluss ihrer Promotion zur Pietà-Ikonik in der
Gegenwartskunst und wendet dabei neurobiologische Ansätze sowie Erika Fischer-Lichtes Forschungen zu Gebärden an, die affektive Stimmungen und Empathie auslösen.
Die Bedeutung (der Geschichte) des Fühlens, der Emotionen oder der Affekte für die Forschung an rituellen Ästhetiken, Gesten und Dramaturgien ist in der Forschung aller Anwesenden zentral:
- Brigitte Luchesi machte, im Rückblick auf langjährige Forschungen in Nordindien, darauf aufmerksam, dass Feldforschung selbst mit sehr „gemischten Gefühlen“ einhergehen kann: sowohl die emotional mitreißenden und ergreifenden als auch die befremdlichen und teilweise in moralische Konflikte führenden Situationen werden nach wie vor selten wissenschaftlich als eigenes Thema behandelt. Eine Forscherin bleibe nicht immer von den Ängsten und Sorgen anderer Ritualteilnehmer verschont. Dieses Thema haben wir im Verlauf des ganzen Tages immer wieder gestreift und es für ein späteres Vertiefen festgehalten.
- Esther-Maria Guggenmos forscht zum Wandel von Emotion in der chinesischen Moderne anhand eines Würfelrituals (vgl. unser letztes Panel auf der DVRW-Tagung). Die emotionale Involviertheit der Teilnehmenden an solchen Ritualen in der Moderne ist anders gelagert als die historische belegte Praxis der späten Ming-Zeit. Der kulturelle „Raum“ der Freizeit und Unverbindlichkeit ist neu hinzugekommen. Ändert sich Religion und Ritualität dadurch, dass sich unser emotionales Erleben in der Moderne ändert? Welche Rolle spielen dabei veränderte Zeichen und Mitteilungsformen für Emotionen, etwa in Gestalt von „Emojis“?
- Peter Bräunlein widmet sich nach seinen Forschungen zu Passionsritualen auf den Philippinnen und zu materieller Kultur, insbesondere in Museen und Sammlungen, nun auch dem klassischen Thema des „Herrn der Tiere“, der seit den 60er Jahren in Vergessenheit geraten ist, nun aber im Rahmen eines Ontological Turn wieder von Interesse sein kann.
- Annette Wilke machte auf die komplexe und vielschichtige Emotionstheorie des altindischen Theaterlehrbuchs Nāṭyaśāstra aufmerksam (Zu dem intensiven Nachleben der darin elaborierten Begriffe rasa und bhāva – und zum sich dabei vollziehenden Bedeutungswandel von in ästhetischer Distanz „genossenen“ hin zu religiösen, intensiven und immersiven Emotionen in der Kṛṣṇa-Bhakti siehe Wilke 2018).
- Arianna Borrelli, Wissenschaftshistorikerin, sieht Vergleichsmomente zwischen wissenschaftlichen und religiösen „Ästhetiken des Wissens“, vor deren Hintergrund die Neurowissenschaft – ob sie nun zum Bestandteil religionswissenschaftlicher Theorie und Methodik werden soll oder nicht – selbst zum Objekt kritischer, historischer Reflektion werden kann.
- Ulrike Brunotte forscht zu Emotion nicht nur als Objekt, sondern auch als Faszinosum und Motivation der Religionswissenschaft und ihrer Theoriegeschichte, etwa im Hinblik auf die „romantischen“ Sehnsüchte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach Ritualen und Männerbünden gehören. Vor diesem Hintergrund ist es besonders interessant, sich mit Jane Harrison zu beschäftigen. In einer Monographie zu Harrison, Dämonen des Wissens, und in ihren Beiträgen zu unserem Treffen betont Brunotte, dass der Hype der letzten Jahrzehnte um Aby Warburg ebenso sehr Harrison gebührte.
- Gerrit Lange untersucht die Gefühle, die während der rituellen Reise der Göttin Naiṇī Devī im indischen Zentralhimalaya aufkommen. Er interessiert sich dabei nicht nur für menschliche Emotionen und Affekte, die in Interviews mit Namen benannt und in Filmaufnahmen beobachtbar sind, sondern auch für diejenigen, die der Göttin selbst zugeschrieben werden, und für die emotionale Interaktion mit ihr.
Dabei lasen und besprachen wir Auszüge von Jane Harrison (Themis, 1912, und Ancient Art and Ritual, 1913) im Kontrast zu Tanja Luhrmanns Artikel zur Absorbtion im Bloomsbury Handbook of the Cultural and Cognitive Aesthetics of Religion (2020). Beide Texte verbindet, dass sie Fühlen und Denken nicht als voneinander unabhängige Bereiche definieren. Harrison (1912, S. 43 f.) stellt Vermutungen dazu auf, wie emotional intensive, kollektiv erlebte Rituale zur Bildung abstrakter Begriffe und Gottesvorstellungen beitragen. Dabei verweigert sie sich einer eindeutigen Antwort auf die Frage nach der Vermitteltheit oder Unmittelbarkeit, der kulturellen Konstruktion oder biologischen Angeborenheit von Gefühlen, und greift dafür auf in der Gräzistik bis dahin vernachlässigte Zeugnisse materieller und bildlicher Kultur zurück. Luhrmann kommt mit ganz anderen Voraussetzungen ebenfalls zu einem Mittelweg zwischen Vermitteltheit oder Unmittelbarkeit des emotionalen Erlebens und entzieht sich dem Entweder/Oder von Nature und Nurture, in dem sie die „Absorptionsfähigkeit“ religiöser Praktizierender als zum Teil auf angeborenes „Talent“, aber auch auf „Training“ zurückführt. Die Absorption, wie Luhrmann sie beschreibt, hängt eng mit Gefühlen zusammen. Anhand des eigenen religiösen „Trainings“, das sie als Teil einer Forschung durchführte, beschreibt sie die erhöhte Intensität rituellen Erlebens durch konzentrierte Aufmerksamkeit.
Harrison stellte nicht nur – lange vor Victor Turner – performative Elemente von Religion in den Vordergrund, sondern präsentierte auch ihre eigenen Forschungsinteressen einer breiteren Öffentlichkeit auf theatralischem Wege. Davon angeregt eruierten wir in unserem Gespräch die Möglichkeiten, religionsästhetische Forschung auch über andere, sinnlich und performativ vielschichtigere Wege zu vermitteln als nur in Textform.